Wege

Ich trete auf den weissen Kies. Spüre unter den dünnen Sohlen meiner Sneaker die Steine wie sie langsam wegrutschen ohne das ich den Halt verliere. Auf einen Kiesweg muss man sich einlassen. Er ist lebendig, so wie der Fuss der auf ihn tritt. Er weicht nur soweit zur Seite, wie er unbedingt muss. Er schmiegt sich leicht an und gibt Halt. Es funktioniert nur, wenn man sich auf ihn einlässt. Das leise Knirschen fügt sich in die Melodie des herannahenden Frühlings an. Das Knirschen der Kiesel und der Gesang der Vögel, sie sind die wahre Sinfonie des Frühlings. Wie schwer und hart ist dagegen der Stein. Unnachgiebig und heiss ist er. Der Kiesel lässt den Regen hindurch. Der Stein wehrt den Regen ab. Der Kiesel ist der wahre Naturfreund. Jeder Schritt über den Kiesel ist anders. Kein Schritt gleicht dem anderen. Fröhlich gehe ich den Weg rauf und runter. Der Weg ist nie derselbe. 

20.02.2024

Ben

Er nahm die schwarze Leine vom Haken und rief seinen Hund. Sein Hund kam langsam angetrottet. Er war nun schon 13 Jahre alt und Ben hatte Angst vor dem Tag, an dem sein Hund nicht mehr mit ihm gehen konnte. Warum ihm gerade heute die Gedanken daran so deutlich wurden, wusste er auch nicht. Er erinnerte sich daran, wie er ihn vor fast 13 Jahren auf dem Arm nahm. Der Züchter sagte damals: Du musst warten welcher von den Welpen zu dir kommt. Der Hund sollte die Entscheidung treffen, nicht der Mensch. Damals hatte er das nicht verstanden. Heute weiss er es. Die Wege, die sie zusammen gehen können, werden kürzer. Es gibt Tage an denen er gar nicht mehr mit raus möchte. Dann muss Ben ihn locken, ihn motivieren und oft, nicht immer, geht er dann doch mit raus. 

Jetzt wo die Tage langsam länger werden und der Frühling sich seinen ersten Kampf mit dem Winter liefert, kommen auch er und sein Hund wieder mehr in die Gänge. 

Ben nimmt das Halsband und legt es ihm um seinen Hals. Dann öffnet den Karabinerhaken und verbindet die Leine mit dem Halsband. Ein Ablauf den er ohne Überlegungen macht. Die Leine die er benutzt ist genauso alt wie sein Hund. Ben hält nichts vom Horten unzähliger Leinen. Ein Hund – eine Leine, so hat er es schon mit den anderen gehalten. Wenn sein Gefährte über die Regenbrücke gehen muss, wird die Leine mit ihm gehen. 

Er zieht sich die großen, schweren Gummistiefel an. Es regnet zwar nicht, aber der Boden ist noch feucht und vom Regen der letzten Wochen durchgeweicht. Er hat die Gummistiefel mit einem guten Futter darin angezogen, so dass er keine kalten Füße bekommt. Er zieht danach seine alte Wachsjacke an, prüft ob ein paar Krümel für seinen Hund dabei hat, setzt seinen Hut auf und dann gehen beide zur Tür raus. Er überlegt, ob sie mal eine andere Runde gehen wollen, aber die Entscheidung wohin sie gehen, die überläßt er zumeist seinem Hund. Auch dafür erntet er oft Kopfschütteln, aber er kann darin nichts falsches sehen. Warum sollte er seinen Hund auf einen Weg zwingen den er nicht gehen will? Er würde sich selber ja auch nicht zwingen lassen. Als sie auf dem Weg sind, leint er seinen Hund ab. So trottet Ben seinem Hund hinterher. Der Hund bestimmt das Tempo das sie gehen, die Stops wo sein Hund Zeitung lesen muss. So nennt Ben es, wenn sein Hund anhält und schnüffelt. Ben läßt ihm die Zeit die er braucht. Zeit, die ist so wertvoll, also will er auch die Zeit mit seinem Hund so lange wie möglich verbringen. 

Auf ihren Rundgängen treffen sie oft andere Hunde und Ben muss dann schon aufpassen, weil sein Hund sich nicht mit jedem gut versteht. Dann überredet er ihn einen anderen Weg zu gehen. Er sagt sich, das er selber ja auch den Leuten, die er nicht mag, aus dem Weg geht. Was ist also falsch daran. Er kennt einige andere Hundebesitzer, die diese Konfrontation geradezu herausfordern, nur um ihren Hund zu zwingen sich ruhig zu verhalten. Ben hat das alles nie verstanden. Zwang ist etwas für ihn, das er schon immer in seinem Leben abgelehnt hat. Er lebt nun schon seit fünf Jahren allein, nachdem seine Frau gestorben ist. Ihren Tod den er bis heute nicht überwinden konnte. Seit dem Tag, ist er kein Auto mehr gefahren. Der, der seiner Frau die Vorfahrt genommen hat, ist ohne Schaden davongekommen. Einfach so, von einer Sekunde auf die andere, wird das Leben eines Menschen ausgelöscht und nur weil jemand sich auf auf einen anderen verlassen hat. Ben wischt die Gedanken an diesen schrecklichen Tag beiseite.

Ben schaut sich nach seinem Hund um. Er hat ist seinen Gedanken gefolgt, statt seinem Hund. Er ruft ihn, schaut sich um. Der Hund steht hinter ihm. Er war die ganze Zeit bei ihm. Sie gehen den Weg weiter. Er führt eine lange Strecke geradeaus an einem ehemalig begradigten Fluß vorbei. Sie haben dort Sträucher angepflanzt und den Fluß in sein ursprüngliches Bett zurückgeführt. Er muss aufpassen, dass er die Kaninchen und Hasen vor seinem Hund sieht, sonst kann es sein, dass er davon läuft. 

Er ruft seinen Hund, der sich die Leine mit etwas Widerwillen anlegen läßt. Aber er weiß auch, wenn sie über Straßen gehen, muss die Leine dran sein. Sie überqueren so die großen breite Straßen. Ben muss daran denken, dass damals, als er mit seiner Frau und dem Vorgänger von seinem jetzigen Hund spazieren ging, das Unglück geschah. 

Sie hatten den Hund frei laufen lassen und waren im Gespräch derartig vertieft, dass sie die Katze, die in großen Sprüngen davon jagte, nicht gesehen hatten. Sie hörten kurz danach nur Reifen quietschen und dann einen dumpfen Schlag. Ein Schlag der nicht zur Umgebung passte. Sie schauten sich beide um und konnten ihren Hund nicht entdecken. Sie wussten beide sofort, dass es ihr Hund war, der das Auto zum Bremsen gebracht hatte. Sie liefen durch das Gebüsch direkt zur großen Straße, ohne darauf zu achten, das das Gebüsch ein Dornengebüsch war. Auf der Straße stand ein großes Auto, so ein Geländewagen, wie ihn viele heute fahren. Ihr Hund lag ausgestreckt auf der anderen Seite der Straße. Es war wenig Verkehr gewesen, doch der Zufall hatten Hund und Auto zusammengebracht.  Er war tot. Zum Glück war er nicht äußerlich verletzt worden. Der Schlag war aber so heftig gewesen, dass er sofort tot gewesen sein musste. 

Der Fahrer des Wagens, ein älterer Herr, war total am Boden zerstört. Er entschuldigte sich tausendmal Mal. Ben sprach mit ihm, während seine Frau auf dem Boden saß und den Hund streichelte. Er war nur seinen Instinkten gefolgt und die waren ihm zum Verhängnis geworden. Nachdem Ben den Fahrer beruhigt hatte, der Fahrer wollte auf jeden Fall Schadensersatz zahlen, was Ben vehement ablehnte, ging Ben zu seiner Frau und sagte ihr, das dieser Tod für ihren Hund doch das Beste sei, was ihm hätte passieren können, Er war zwar nur zehn Jahre geworden, aber es war ihm vielleicht auch Qualen und ein herbeigeführter Tod beim Tierarzt erspart geblieben. Er sagte noch, das die meisten Hunde in ihrem Land keines natürlichen Todes starben, sonder wegen Krankheiten, zumeist Krebs, eingeschläfert werden mussten. Das alles drang aber wohl nicht zu den Ohren seiner Frau. Sie sah ihn an, aber er hatte den Eindruck als ob sie durch ihn hindurch schauen würde. 

Er zog seine Jacke aus und sie legten ihn darauf, so dass sie ihn zu zweit tragen konnten. Er war ein Collie-Mix gewesen, undefinierbar aber dabei kleiner als ein Collie und er hatte die Haare sehr kurz gehabt. Sie hoben ihn an und legten ihn auf die Jacke.Sie wunderten sich beide, wie leicht er war. Sein Körper fühlte sich noch warm an und er dachte, dass bald die Leichenstarre eintreten würden. Sie trugen ihn zwischen sich, jeder einen Ärmel in der Hand. Sie versuchten einen Weg nach Hause zu gehen, wo sie keine anderen Menschen begegnen würden. Sie legten ihren Hund in die Garage auf einen alten Gartentisch. Er holte vorher eine Plane die er darunter legte. Das war der erste Moment, an dem seine Frau seit dem Unfall, sprach. Sie fragte mit einer seltsam fremden Stimme, wozu die Plane da sein sollte. Er erklärte es ihr und dann weinte sie. So sehr, dass es ihm das Herz zusammenquetschte. Er wußte, das er sie nicht würde trösten können. 

Den Hund hatten sie damals zu ihren Eltern in den großen Garten gebracht. Der Garten war fast zweitausend Quadratmeter groß und sie fanden einen guten Platz an dem kleinen Weiher, der am Rande des Grundstücks lag. Immer wenn sie ihre Eltern besucht hatten, war ihr Hund in deren Garten und lag er am Weiher und sah den Enten beim Schwimmen zu.

Irgendwie war Ben schon über die große Straße gegangen. Er wußte nicht mehr wie, aber das war egal. Sein alter Hund trottete neben ihn her und sie gingen jetzt ein langes Stück Feldweg entlang des begradigten Teils des kleinen Flusses. Sie kamen an alten Eichen vorbei. Sie standen in einer Reihe und waren demnach nicht natürlich an diesen Stellen gewachsen. Der Größe nach schätzte er sie auf über zweihundert Jahre. Warum hatten die Menschen damals diese lange Reihe Bäume gepflanzt? 

Es war Frühjahr und die Bauern waren mit ihren großen Maschinen auf den Feldern und Äckern unterwegs um die Aussaaten einzubringen. Wie so oft, erinnerte sich Ben an die Zeiten auf dem elterlichen Hof. An die Zeiten, an dem sein Vater und sein Großvater mit Pferden arbeiten mussten. An die Zeiten, in denen die Umwelt noch nicht von Motorenlärm zugedröhnt wurde. Er erinnerte sich gerne an diese Zeiten und sein Vater war damals noch viel jünger als er heute gewesen und musste sehr schwer arbeiten. Noch in den letzten Kriegstagen hatten sie ihn und seinen Freund eingezogen. Sie gehörten zu den Kindersoldaten des Dritten Reiches. Es hatte nicht lange gedauert, da wurden sie bei Hamburg von den Engländern gefangen genommen. Er war um seine Kindheit, um sein Erwachsenwerden betrogen worden. Später als Ben so um 15 Jahre alt war, erzählte ihm sein Vater von seinen Erlebnissen. Sein Vater hatte oft Albträume. In der heutigen Zeit hätte er Hilfe bekommen können. Damals musste er nur funktionieren. Keiner fragte danach. Es war die Zeit, in der die Gesellschaft sich neu aufbauen musste. 

Die Erinnerungen an seinen Vater kamen Ben immer bei Geschehnissen, die eine Verbindung zum Leben seines Vaters hatten. So wie hier, beim Anblick von bestellten Äckern. 

Sein Hund schnüffelte und stöberte durch die Büsche und Sträucher. Er lebte in einer anderen Welt und doch gab es eine Welt die sie sich teilten. Eine Welt die nur sie beide gemeinsam hatten. Er sprach eigentlich nie mit seinem Hund. Wozu auch. Die Menschliche Sprache verstand er eh nicht und so sah der Hund ihn an und wußte was er tun sollte, oder eben auch nicht.

Er schaute über die Äcker und sah eine Schar Krähen über das Feld fliegen. Sie landeten verteilt auf dem Acker und suchten sich was zum fressen. Durch das frisch gepflügte Feld kommt ja immer einiges an Getier nach oben. Krähen sind schlau und wissen, wenn ein Trecker auf dem Feld unterwegs ist, dass dann der Tisch für sie reich gedeckt ist. 

Es fröstelte ihm leicht. Die Jacke, die sich heute morgen ausgesucht hatte, war nicht warm genug. Er schaute sich nach seinem Hund um. Entdeckte ihn in einem Gebüsch beim Schnüffeln. Seine Rute ging hin und her. Ein Zeichen, dass er wohl etwas entdeckt hatte. Ben schaute seinem Hund eine Weile zu. Dann drehte er sich um und trottete den Weg zurück. Sein Hund überholte ihn nach ein paar Minuten mit leichten Schritten und lief dann voraus. Er wusste, dass es nach Hause gehen würde und dort würde er einen Napf mit Futter vorfinden. Nach dem Fressen würde er sich neben Ben, der in seinem alten, mit Schaffell bezogenen Ledersessel saß, ans Kaminfeuer legen. Es würde dann alles ganz ruhig sein. Nur das Knistern des Feuers würden die beiden hören. Einer von ihnen würde zuerst einschlafen und sie würden erst dann wach werden, wenn das Feuer im Kamin heruntergebrannt war. Sie würden dann ins Schlafzimmer legen und sich den Träumen der Nacht hingeben. Jeder für sich und dennoch zusammen. 

21.02.24