Wege

Ich trete auf den weissen Kies. Spüre unter den dünnen Sohlen meiner Sneaker die Steine wie sie langsam wegrutschen ohne das ich den Halt verliere. Auf einen Kiesweg muss man sich einlassen. Er ist lebendig, so wie der Fuss der auf ihn tritt. Er weicht nur soweit zur Seite, wie er unbedingt muss. Er schmiegt sich leicht an und gibt Halt. Es funktioniert nur, wenn man sich auf ihn einlässt. Das leise Knirschen fügt sich in die Melodie des herannahenden Frühlings an. Das Knirschen der Kiesel und der Gesang der Vögel, sie sind die wahre Sinfonie des Frühlings. Wie schwer und hart ist dagegen der Stein. Unnachgiebig und heiss ist er. Der Kiesel lässt den Regen hindurch. Der Stein wehrt den Regen ab. Der Kiesel ist der wahre Naturfreund. Jeder Schritt über den Kiesel ist anders. Kein Schritt gleicht dem anderen. Fröhlich gehe ich den Weg rauf und runter. Der Weg ist nie derselbe. 

20.02.2024

Ben

Er nahm die schwarze Leine vom Haken und rief seinen Hund. Sein Hund kam langsam angetrottet. Er war nun schon 13 Jahre alt und Ben hatte Angst vor dem Tag, an dem sein Hund nicht mehr mit ihm gehen konnte. Warum ihm gerade heute die Gedanken daran so deutlich wurden, wusste er auch nicht. Er erinnerte sich daran, wie er ihn vor fast 13 Jahren auf dem Arm nahm. Der Züchter sagte damals: Du musst warten welcher von den Welpen zu dir kommt. Der Hund sollte die Entscheidung treffen, nicht der Mensch. Damals hatte er das nicht verstanden. Heute weiss er es. Die Wege, die sie zusammen gehen können, werden kürzer. Es gibt Tage an denen er gar nicht mehr mit raus möchte. Dann muss Ben ihn locken, ihn motivieren und oft, nicht immer, geht er dann doch mit raus. 

Jetzt wo die Tage langsam länger werden und der Frühling sich seinen ersten Kampf mit dem Winter liefert, kommen auch er und sein Hund wieder mehr in die Gänge. 

Ben nimmt das Halsband und legt es ihm um seinen Hals. Dann öffnet den Karabinerhaken und verbindet die Leine mit dem Halsband. Ein Ablauf den er ohne Überlegungen macht. Die Leine die er benutzt ist genauso alt wie sein Hund. Ben hält nichts vom Horten unzähliger Leinen. Ein Hund – eine Leine, so hat er es schon mit den anderen gehalten. Wenn sein Gefährte über die Regenbrücke gehen muss, wird die Leine mit ihm gehen. 

Er zieht sich die großen, schweren Gummistiefel an. Es regnet zwar nicht, aber der Boden ist noch feucht und vom Regen der letzten Wochen durchgeweicht. Er hat die Gummistiefel mit einem guten Futter darin angezogen, so dass er keine kalten Füße bekommt. Er zieht danach seine alte Wachsjacke an, prüft ob ein paar Krümel für seinen Hund dabei hat, setzt seinen Hut auf und dann gehen beide zur Tür raus. Er überlegt, ob sie mal eine andere Runde gehen wollen, aber die Entscheidung wohin sie gehen, die überläßt er zumeist seinem Hund. Auch dafür erntet er oft Kopfschütteln, aber er kann darin nichts falsches sehen. Warum sollte er seinen Hund auf einen Weg zwingen den er nicht gehen will? Er würde sich selber ja auch nicht zwingen lassen. Als sie auf dem Weg sind, leint er seinen Hund ab. So trottet Ben seinem Hund hinterher. Der Hund bestimmt das Tempo das sie gehen, die Stops wo sein Hund Zeitung lesen muss. So nennt Ben es, wenn sein Hund anhält und schnüffelt. Ben läßt ihm die Zeit die er braucht. Zeit, die ist so wertvoll, also will er auch die Zeit mit seinem Hund so lange wie möglich verbringen. 

Auf ihren Rundgängen treffen sie oft andere Hunde und Ben muss dann schon aufpassen, weil sein Hund sich nicht mit jedem gut versteht. Dann überredet er ihn einen anderen Weg zu gehen. Er sagt sich, das er selber ja auch den Leuten, die er nicht mag, aus dem Weg geht. Was ist also falsch daran. Er kennt einige andere Hundebesitzer, die diese Konfrontation geradezu herausfordern, nur um ihren Hund zu zwingen sich ruhig zu verhalten. Ben hat das alles nie verstanden. Zwang ist etwas für ihn, das er schon immer in seinem Leben abgelehnt hat. Er lebt nun schon seit fünf Jahren allein, nachdem seine Frau gestorben ist. Ihren Tod den er bis heute nicht überwinden konnte. Seit dem Tag, ist er kein Auto mehr gefahren. Der, der seiner Frau die Vorfahrt genommen hat, ist ohne Schaden davongekommen. Einfach so, von einer Sekunde auf die andere, wird das Leben eines Menschen ausgelöscht und nur weil jemand sich auf auf einen anderen verlassen hat. Ben wischt die Gedanken an diesen schrecklichen Tag beiseite.

Ben schaut sich nach seinem Hund um. Er hat ist seinen Gedanken gefolgt, statt seinem Hund. Er ruft ihn, schaut sich um. Der Hund steht hinter ihm. Er war die ganze Zeit bei ihm. Sie gehen den Weg weiter. Er führt eine lange Strecke geradeaus an einem ehemalig begradigten Fluß vorbei. Sie haben dort Sträucher angepflanzt und den Fluß in sein ursprüngliches Bett zurückgeführt. Er muss aufpassen, dass er die Kaninchen und Hasen vor seinem Hund sieht, sonst kann es sein, dass er davon läuft. 

Er ruft seinen Hund, der sich die Leine mit etwas Widerwillen anlegen läßt. Aber er weiß auch, wenn sie über Straßen gehen, muss die Leine dran sein. Sie überqueren so die großen breite Straßen. Ben muss daran denken, dass damals, als er mit seiner Frau und dem Vorgänger von seinem jetzigen Hund spazieren ging, das Unglück geschah. 

Sie hatten den Hund frei laufen lassen und waren im Gespräch derartig vertieft, dass sie die Katze, die in großen Sprüngen davon jagte, nicht gesehen hatten. Sie hörten kurz danach nur Reifen quietschen und dann einen dumpfen Schlag. Ein Schlag der nicht zur Umgebung passte. Sie schauten sich beide um und konnten ihren Hund nicht entdecken. Sie wussten beide sofort, dass es ihr Hund war, der das Auto zum Bremsen gebracht hatte. Sie liefen durch das Gebüsch direkt zur großen Straße, ohne darauf zu achten, das das Gebüsch ein Dornengebüsch war. Auf der Straße stand ein großes Auto, so ein Geländewagen, wie ihn viele heute fahren. Ihr Hund lag ausgestreckt auf der anderen Seite der Straße. Es war wenig Verkehr gewesen, doch der Zufall hatten Hund und Auto zusammengebracht.  Er war tot. Zum Glück war er nicht äußerlich verletzt worden. Der Schlag war aber so heftig gewesen, dass er sofort tot gewesen sein musste. 

Der Fahrer des Wagens, ein älterer Herr, war total am Boden zerstört. Er entschuldigte sich tausendmal Mal. Ben sprach mit ihm, während seine Frau auf dem Boden saß und den Hund streichelte. Er war nur seinen Instinkten gefolgt und die waren ihm zum Verhängnis geworden. Nachdem Ben den Fahrer beruhigt hatte, der Fahrer wollte auf jeden Fall Schadensersatz zahlen, was Ben vehement ablehnte, ging Ben zu seiner Frau und sagte ihr, das dieser Tod für ihren Hund doch das Beste sei, was ihm hätte passieren können, Er war zwar nur zehn Jahre geworden, aber es war ihm vielleicht auch Qualen und ein herbeigeführter Tod beim Tierarzt erspart geblieben. Er sagte noch, das die meisten Hunde in ihrem Land keines natürlichen Todes starben, sonder wegen Krankheiten, zumeist Krebs, eingeschläfert werden mussten. Das alles drang aber wohl nicht zu den Ohren seiner Frau. Sie sah ihn an, aber er hatte den Eindruck als ob sie durch ihn hindurch schauen würde. 

Er zog seine Jacke aus und sie legten ihn darauf, so dass sie ihn zu zweit tragen konnten. Er war ein Collie-Mix gewesen, undefinierbar aber dabei kleiner als ein Collie und er hatte die Haare sehr kurz gehabt. Sie hoben ihn an und legten ihn auf die Jacke.Sie wunderten sich beide, wie leicht er war. Sein Körper fühlte sich noch warm an und er dachte, dass bald die Leichenstarre eintreten würden. Sie trugen ihn zwischen sich, jeder einen Ärmel in der Hand. Sie versuchten einen Weg nach Hause zu gehen, wo sie keine anderen Menschen begegnen würden. Sie legten ihren Hund in die Garage auf einen alten Gartentisch. Er holte vorher eine Plane die er darunter legte. Das war der erste Moment, an dem seine Frau seit dem Unfall, sprach. Sie fragte mit einer seltsam fremden Stimme, wozu die Plane da sein sollte. Er erklärte es ihr und dann weinte sie. So sehr, dass es ihm das Herz zusammenquetschte. Er wußte, das er sie nicht würde trösten können. 

Den Hund hatten sie damals zu ihren Eltern in den großen Garten gebracht. Der Garten war fast zweitausend Quadratmeter groß und sie fanden einen guten Platz an dem kleinen Weiher, der am Rande des Grundstücks lag. Immer wenn sie ihre Eltern besucht hatten, war ihr Hund in deren Garten und lag er am Weiher und sah den Enten beim Schwimmen zu.

Irgendwie war Ben schon über die große Straße gegangen. Er wußte nicht mehr wie, aber das war egal. Sein alter Hund trottete neben ihn her und sie gingen jetzt ein langes Stück Feldweg entlang des begradigten Teils des kleinen Flusses. Sie kamen an alten Eichen vorbei. Sie standen in einer Reihe und waren demnach nicht natürlich an diesen Stellen gewachsen. Der Größe nach schätzte er sie auf über zweihundert Jahre. Warum hatten die Menschen damals diese lange Reihe Bäume gepflanzt? 

Es war Frühjahr und die Bauern waren mit ihren großen Maschinen auf den Feldern und Äckern unterwegs um die Aussaaten einzubringen. Wie so oft, erinnerte sich Ben an die Zeiten auf dem elterlichen Hof. An die Zeiten, an dem sein Vater und sein Großvater mit Pferden arbeiten mussten. An die Zeiten, in denen die Umwelt noch nicht von Motorenlärm zugedröhnt wurde. Er erinnerte sich gerne an diese Zeiten und sein Vater war damals noch viel jünger als er heute gewesen und musste sehr schwer arbeiten. Noch in den letzten Kriegstagen hatten sie ihn und seinen Freund eingezogen. Sie gehörten zu den Kindersoldaten des Dritten Reiches. Es hatte nicht lange gedauert, da wurden sie bei Hamburg von den Engländern gefangen genommen. Er war um seine Kindheit, um sein Erwachsenwerden betrogen worden. Später als Ben so um 15 Jahre alt war, erzählte ihm sein Vater von seinen Erlebnissen. Sein Vater hatte oft Albträume. In der heutigen Zeit hätte er Hilfe bekommen können. Damals musste er nur funktionieren. Keiner fragte danach. Es war die Zeit, in der die Gesellschaft sich neu aufbauen musste. 

Die Erinnerungen an seinen Vater kamen Ben immer bei Geschehnissen, die eine Verbindung zum Leben seines Vaters hatten. So wie hier, beim Anblick von bestellten Äckern. 

Sein Hund schnüffelte und stöberte durch die Büsche und Sträucher. Er lebte in einer anderen Welt und doch gab es eine Welt die sie sich teilten. Eine Welt die nur sie beide gemeinsam hatten. Er sprach eigentlich nie mit seinem Hund. Wozu auch. Die Menschliche Sprache verstand er eh nicht und so sah der Hund ihn an und wußte was er tun sollte, oder eben auch nicht.

Er schaute über die Äcker und sah eine Schar Krähen über das Feld fliegen. Sie landeten verteilt auf dem Acker und suchten sich was zum fressen. Durch das frisch gepflügte Feld kommt ja immer einiges an Getier nach oben. Krähen sind schlau und wissen, wenn ein Trecker auf dem Feld unterwegs ist, dass dann der Tisch für sie reich gedeckt ist. 

Es fröstelte ihm leicht. Die Jacke, die sich heute morgen ausgesucht hatte, war nicht warm genug. Er schaute sich nach seinem Hund um. Entdeckte ihn in einem Gebüsch beim Schnüffeln. Seine Rute ging hin und her. Ein Zeichen, dass er wohl etwas entdeckt hatte. Ben schaute seinem Hund eine Weile zu. Dann drehte er sich um und trottete den Weg zurück. Sein Hund überholte ihn nach ein paar Minuten mit leichten Schritten und lief dann voraus. Er wusste, dass es nach Hause gehen würde und dort würde er einen Napf mit Futter vorfinden. Nach dem Fressen würde er sich neben Ben, der in seinem alten, mit Schaffell bezogenen Ledersessel saß, ans Kaminfeuer legen. Es würde dann alles ganz ruhig sein. Nur das Knistern des Feuers würden die beiden hören. Einer von ihnen würde zuerst einschlafen und sie würden erst dann wach werden, wenn das Feuer im Kamin heruntergebrannt war. Sie würden dann ins Schlafzimmer legen und sich den Träumen der Nacht hingeben. Jeder für sich und dennoch zusammen. 

21.02.24

Frohe Ostern, lieber Johann

Mein Vater erzählte zu Ostern immer wieder diese Geschichte. Jedesmal kam sie allerdings etwas anders daher und so weiss ich nicht, ob sie sich tatsächlich auch so zugetragen hat.
Fragen kann ich niemanden mehr. Sowohl mein Großvater, mein Vater und seine beiden Brüder sind mittlerweile verstorben.

Die nachfolgende Geschichte spielt in der Zeit, als sie alle noch zusammen auf dem elterlichen Hof waren.

Ereignet hat sich das alles, als mein Vater noch ein kleiner Junge von etwa 12 Jahren war. Mein Großvater war Zeit seines Lebens  ein umtriebiger Mensch. Er hatte sich früh dazu entschlossen, mehr sich den Menschen zuzuwenden als den eigenen Hof zu bewirtschaften. So kam er als Prädikant der ev. Kirche Hannover im Kirchenkreis Potshausen weit herum. Ich glaubte als Kind, es gäbe eigentlich niemanden, den er nicht kannte.
So kam es natürlich auch, dass er bei einigen alleinstehenden Damen der Gesellschaft ein und aus ging. Nun will ich über nichts spekulieren, richtig war aber, dass doch einige Damen ihm nachstiegen.

Es war der Ostersonntag und nach den Erzählungen meines Vaters, waren zu der Zeit am Nachmittag er und seine Brüder und sein Vater in der Küche anwesend. Ob meine Großmutter auch zugegen war weiss ich nicht, könnte mir es aber denken, dass aufgrund einer möglichen Abwesenheit es erst zu dem kam, worüber ich schreibe. Meine Großmutter war zeitlebens krank. Möglich ist es, dass sie zu der Zeit bei Ihrer Verwandschaft in Wattenscheid war.

Als alle so zusammensaßen, ging die Tür zur Küche auf und eine Frau mittleren Alters trat hinein. Dazu muss man wissen, dass es zu damaliger Zeit in Ostfriesland durchaus üblich war, die Aussentüren geöffnet zu halten. Mein Vater sagte, er und seine Brüder hätten sofort gewußt, um wem es sich da handelte.
Es muss sich um eine auffallend hübsche Frau gehandelt haben und mein Vater erzählte mir auch mal, wie sie hieß, aber leider habe ich das vergessen. Mein Großvater muss ein sehr erstauntes Gesicht gemacht haben und er schaute verlegen zu seinen drei Söhnen, die alle nebeneinander auf dem Sofa saßen und dem lauschten was kommen würde.
Die Frau, nennen wir sie, der Einfach halber Anni, also Anni ging direkt auf meinen Großvater zu, kramte dann etwas umständlich in ihrer Handtasche um dann eine Tafel Schokolade herauszuholen. Sie reichte ihm die Tafel Schokolade, umarmte ihn, küsste ihn auf die Wange, sah ihn dann freudestrahlend an und sagte: „Frohe Ostern lieber Johann.“
Nun kenne ich meinen Vater und auch seine Brüder. Sie alle waren immer darauf aus, andere auszulachen, sich einen Schabernack zu leisten. Mein Vater sagte, sie alle wären in dem Moment in ein brüllendes Lachen ausgebrochen.
Anni verschwand in dieser für sie dann doch wohl peinlichen Situation wieder durch die Küchentür nach draussen. Mein Großvater lief knallrot an und verließ mit wütendem Gemurmel ebenfalls die Küche.

Die Tafel Schokolade? Ich glaube die Jungs haben sie schnell aufgegessen, so dass es keine Beweise mehr gab.

Kein Ostern, ohne dass meine Onkel zu Besuch kamen, kein Ostern in dem diese Geschichte nicht erzählt wurde. Vornehmlich wenn mein Großvater dabei war. Irgendwie klang sie auch jedesmal etwas anders. Ich bin sicher, dass an der Geschichte viel wahres dran ist, aber eigentlich ist mir das auch egal.

In diesem Sinne: Frohe Ostern lieber Johann. Frohe Ostern Papa, Frohe Ostern Bernhard, Frohe Ostern Artur.
Ihr fehlt mir alle sehr, aber an Ostern seid ihr so präsent wie sonst nie.

Der unsichtbare Feind

Wohin gehst du, wenn deine Heimat die Zuversicht war?

Es ist überall.
Es frisst sich in uns hinein
Es lässt uns nicht ruhen
Es lässt uns nicht gedeihen
Es klammert sich um unsere Seele
Es hält uns fest
Bis alles zerstört ist
Nichts wird mehr sein wie es mal war

Wird unsere Heimat die Angst sein?
Wird unsere Heimat das Misstrauen sein?
Wohin gehst du wenn deine Heimat die Zuversicht war?

jbw März 2020

The Dead of the Foxhunter

von Jann-B. Webermann

Es war Spätsommer und bald würde der Herbst kommen. Der alte Jäger saß in seinem mit Schaffell bezogenen alten Sessel und sinnierte vor sich hin. Der Sessel stand vor der Terrassentür und er konnte mit seinem Gehstock die Tür aufstoßen wenn er die Luft im Zimmer nicht mehr ertragen konnte. An diesem Gehstock, den er seit etwa einem Jahr hatte, war am oberen Ende eine Fahrradklingel angebracht. Hiermit konnte er einen seiner zwei Diener beordern, die dann all das für ihn taten, was er nicht mehr selbst tun konnte. 

Das Gehen fiel im schon seit Jahren zunehmend schwerer. Dieses Jahr würde es das erste Jahr sein, dass er nicht mehr mit auf die Jagd nach den Böcken gehen konnte. Schon seit Jahren war er nicht mehr in der Lage auf sein Pferd steigen, die Fuchsjagden, die er so liebte, sie waren für immer für ihn vorbei. Im ersten Jahr, als er merkte das das Reiten auf der Flur nicht mehr gefahrlos für ihn sein würde, da war er noch mit dem Pferdewagen zur Strecke gefahren und hatte mit den anderen nach der Jagd die Strecke geblasen. Doch das Horn, es war mittlerweile nur noch ein Stück Blech für ihn. Seine Lunge hatte nur noch wenig Kraft und der Arzt meinte er müsse jetzt besonders auf sich aufpassen. Er hatte damals nichts dazu erwidert. Ein Leben ohne Jagd, das war für ihn nicht vorstellbar. 

Hier im Lakeland Distrikt mit seinen sanften Hügeln, den sattgrünen Wiesen, die wie überall im Norden Englands, die mit Steinwällen umzäunt waren, hier gehörte die Jagd zum Leben. Töte niemals etwas, was du auch nicht essen würdest. Das hatte sein Vater ihm, als er noch ein kleiner Junge war, gesagt. Er hatte sich sein Leben lang daran gehalten. Er brauchte das Geld, das er mit dem Verkauf von Wildbret verdiente, nicht. Sein Vater hatte ihm ein stattliches Vermögen hinterlassen und ohnehin gab er das Fleisch den Menschen auf seinen Ländereien gerne. Die wenigen Bauern hatte ihre Not, mit dem was sie hatten, auszukommen. So versorgte er sie mit Hirsch, Reh und Kaninchen. Nur den Fuchs, den alten Räuber, den jagte er aus der reinen Lust am Jagen. Er war schlau und der alte Jäger hat ihn oft tagelang alleine nachgestellt. Manchmal gewann der Fuchs und manchmal der Jäger. Für ihn war es wichtig, dass das Gleichgewicht immer wieder hergestellt wurde. Die Treibjagden auf den Fuchs, wie sie in England seit Jahrhunderten üblich sind, sie widerten ihn an. Das was du jagst, das muss auch eine Chance haben davonzukommen, das war stets seine Devise gewesen. 

Der Wind rüttelte an den Fensterläden und der alte Jäger merkte, obwohl es draussen noch warm war, wie die Kälte an seinen Beinen hochzog. Er konnte spüren, wie die Kälte seine Brust erreichte und ihm das Gefühl überfiel, die Luft würde ihm gleich wegbleiben. In diesem Moment dachte er: Dann lass es vorbei sein, hol mich, wer immer du bist, Gott oder Teufel oder wer weiss sonst was. Aber diesen Gefallen wurde ihm nicht getan. Nach etlichen Hustenanfällen kam er wieder etwas zu Kräften und seine Diener – sie waren fast schon Freunde – sie umsorgten ihn und so ließ der Tod weiter auf sich warten. 

In der folgenden Nacht schlief er schlecht. Er wachte mehrfach auf, zündete die Petroleumlampe, die neben ihm auf dem Nachttisch stand, an und starrte zur Decke. Immer öfter hatte er das Gefühl die Dunkelheit um ihn herum nicht mehr ertragen zu können. Er horchte in die Nacht. Das Fenster stand immer offen, im Sommer wie im Winter. Der alte Jäger versuchte zu hören, welche Tiere draussen unterwegs waren. Seine Augenkraft verließ ihn zunehmend, aber sein Gehör war immer noch geschärft. Ein Rascheln in den Laubhaufen, er wusste genau ob das Geräusch von einem Igel oder von einer Maus herrührte. Selbst das schnelle Flirren der Luft, das von einer Fledermaus oder von einer Eule herrühren konnte, er konnte es hören und deuten. Sie sind alle da draussen, dachte er. Sie jagen, weil sie jagen müssen. Wer nicht auf die Jagd geht, der stirbt. Der Tod als Teil des Lebens, für ihn eine Selbstverständlichkeit. 

Wenn er im Bett lag, konnte er auf der gegenüberliegenden Seite die Uhr beobachten. Die Uhr hatte ein Pendel und ein Zifferblatt mit römischen Zahlen darauf. Neben dem runden Glas, das das Zifferblatt abdeckte, waren darunter noch zwei Glasfenster. Durch die konnte er sehen, wie das Pendel hin und her schlug. Eine Bewegung eine Sekunde. Er hörte das leise Klacken nur wenn er sich darauf konzentrierte. Nur wenn es nicht schlug, weil die Diener vergessen hatten es aufzuziehen, dann fehlte im das Klacken. Manchmal, wenn er so wie heute nicht schlafen konnte, dann beobachtete er das Pendel und ihm wurde bewusst das mit jedem Schlag sein Leben kürzer wurde. Unaufhörlich, ohne Erbarmen, kroch die Zeit dahin und frass ihn innerlich auf. Dann konnte er sich oft stundenlang nicht der verrinnenden Zeit entziehen. Er sah auf das Zifferblatt. Drei Uhr war es. In ihm kamen die Gedanken hoch, die Gedanken die immer öfter zu ihm kamen und die er nicht mehr loswerden würde. Heute, so dachte er, heute ist ein guter Tag. 

Er griff nach der Glocke die neben im auf dem Nachttisch stand und läutete. Er wartete, denn seine Diener waren es nicht gewohnt von ihm nachts geweckt zu werden. Nach einigen Minuten kam einer von ihnen herein. Sir, sagte er fragend. 

Jack, sagte der alte Jäger, hol Tom her, ihr müsst mir heute einen Gefallen tun. Jack sah ihn verwundert an, ging jedoch ohne eine Frage zu stellen ins das Schlafzimmer von Tom. Sie kamen nach einigen Minuten wieder. 

Ihr müsst mir heute Nacht einen Gefallen tun, sagte der alte Jäger, diesmal zu beiden. Sie schauten ihn mit fragenden Augen an. Sie kannten seine kauzige und manchmal schroffe Art, dennoch arbeiteten sie gerne für ihn. Er hat sie stets ordentlich behandelt. Es ging ihnen beide besser, als manch andern, der für seine Herrschaften im im Distrikt arbeiten musste. Der alte Jäger hatte sie immer mit Respekt behandelt. Jeder hat seine Stellung im Leben, hatte der alte Jäger gesagt. Jeder Mensch hat ein Anrecht auf eine ordentliche Behandlung. 

Der alte Jäger sah sie an. Das worum ich euch nun bitte, sagte er mit leiser Stimme, das tut bitte ohne mich zu fragen, warum ihr es tun sollt. Tom und Jack standen vor ihm, regungslos aber mit fragender Miene. 

Ich kann kaum noch gehen, sagte der Jäger. In zwei Stunden geht die Sonne auf. Ich möchte, dass ihr mich in diesem Sessel an die Lichtung bringt. Tom und Jack wussten, um welche Lichtung es sich handelte. Dort war ihr Herr viele Male im Jahr auf Ansitz. Manchmal kehrte er mit einigen Hasen oder auch Dachsen zurück. Ein andermal hatte er ein Reh geschossen. Immer waren es Tiere, die entweder schwach waren oder alt. Oft fragten sie sich warum er nicht, wie andere Jäger auf Trophäen aus war. Der alte Jäger hatte ihnen erklärt, dass es sich eher als Wolfsersatz sehen würde. Sie hatten das nicht ganz verstanden, trauten sich aber nicht ihn weiter auszufragen.

Der alte Jäger wog nicht mehr viel und die beiden Diener nahmen ihn, mitsamt dem Sessel und trugen ihn vom Landgut nördlich hinweg zur Lichtung. Sie durchquerten einen alten Buchenwald. Zum Glück schien der Mond aber sie hatten zur Sicherheit noch eine Petroleumlampe mitgenommen. Sie dachten die ganze Zeit darüber nach, warum sie den alten Jäger dorthin bringen sollten. Ihr Herr sagte die ganze Zeit über kein Wort, aber er war wach, hellwach und seine kleinen Augen suchten. Oft hielt er den Blick nach oben zu den grünen Baumwipfeln, doch in der Dunkelheit waren noch keine Vögel unterwegs. Eine Eule querte ihren Weg und der alte Jäger hielt den Atem an. 

Sie brachten ihn, ohne ihn einmal absetzen zu müssen, an die Lichtung. Der Mond schien auf das Feld und der alte Jäger sah wie der Tau auf den Gräsern hing. Wie ein Schleier dachte er, wie ein Hochzeitsschleier. Die Natur als Braut. Sie vermählt sich jeden Tag aufs Neue mit uns. Ihm gefiel dieser Gedanke und fast hätte er sie seinen Dienern anvertraut. Der Platz an dem er nun saß, war etwas erhöht, so dass er alles überblicken konnte. 

Sir, sagte einer der Diener, wir haben ihre Büchse vergessen. Der alte Jäger sah ihn an und sagte: Die brauche ich heute nicht. Bitte lasst mich jetzt alleine. Wenn die Sonne eine Handbreit über dem Horizont aufgegangen ist, dann holt ihr mich wieder. Er bat beide zu sich. Er nahm ihre Hände und schaute sie an. Mit nicht ganz fester Stimme sagte er: Danke. Sie sahen ihn an, dann sich gegenseitig. Sir? fragten sie. Geht jetzt, sagte der alte Jäger, jetzt in seinem herrischen Ton. Verschwindet endlich. 

Er horchte in die Nacht, hörte seine Diener durch das Dickicht gehen, sie flüsterten leise. Nach und nach konnte er ihre Stimmen nicht mehr hören, auch ihre Schritte, die über getrocknete Äste gingen, waren nicht mehr vernehmbar. Nun war er allein. Allein mit sich. Doch er fühlte sich überhaupt nicht so. Hier draussen, hier war er zu Hause. Er zog die Luft ganz langsam durch seine Nase. Der Duft von frischer Erde, vermodertem Holz und nassem Gras vermischte sich zum Duft, das sein Leben war. 

Noch einmal, so dachte er, noch einmal alles in mich aufnehmen. Er schaute auf die Lichtung und sah das der Tau langsam abnahm, die Sonne ließ ihre ersten Strahlen am Horizont erahnen. Nur langsam wurde es heller. Ein goldener Strich am Horizont ließ die Welt in eine Farbe tauchen, die er so mochte. All das, so sprach er zu sich selbst, all das kann man nur einmal am Tag erleben, doch viele Menschen sehen es nie in ihrem Leben. 

Er schaute nach oben. Über ihn hatte eine alte Buche ihre Äste wie einen Baldachin gespannt. Er kannte diese Stelle seit seiner Kindheit. Schon mit seinem Vater hatte er hier Stunden verbracht. Nun kam es ihm vor, das auch die alte Buche mit ihm gealtert schien. Einige ihrer Äste waren kahl und dürr. Wie meine Beine sagte er und lachte etwas. Auch war das Blätterdach nicht mehr so dicht wie es mal war. Wir haben alle unsere Zeit hier, mein Freund, sagte er zu dem Baum. 

Plötzlich sah er vom rechten Waldrand her drei Rehe auf die Lichtung treten. Doch obwohl er diesen Anblick schon so oft gesehen hatte, diesmal schlug sein Herz noch schneller. Es war das Herz eines Jägers das sein Blut durch die Adern jagte. Er öffnete leicht den Mund damit sein Atem nicht hörbar war. Die Rehe gingen in einen Abstand von etwa 10 Meter hintereinander. Der alte Jäger rührte sich nicht. Mit einem Mal fühlte er kein Alter mehr in sich. Er erinnerte sich an die jungen Jahre als er in der Morgendämmerung auf sie gewartet hatte. Es ist jedesmal so. Der Augenblick in dem man das Wild sieht, ist wie das erste Mal, immer. Oft hatte er gar nicht gejagt, so wie heute, ging oft ohne Büchse raus. Nur den Revolver hatte er dabei. Einmal hatte er eine unliebsame Begegnung mit einer Wildschweinbache gehabt. Damals hatte er den Revolver nicht dabei und sein Hund hatte die Begegnung nicht überlebt. 

Der alte Jäger zog die Decke über seine Schultern. Es fröstelte ihm leicht. Die Rehe ästen jetzt friedlich im Morgengrauen, immer wieder schauten sie auf und oft glaubte er, das sie ihn längst gesehen hätten und irgendwie wussten, dass er seine Büchse nicht dabei hatte. Ihr seid gar nicht so dumm, wie manche Leute glauben, murmelte er. 

Die ersten Vögel fingen an ihr Lied zu singen und die Sonne erhellte mehr und mehr die Umgebung. Er liebte diesen Übergang von der Nacht in den Tag. Wenn etwas neues anbricht, dann muss vorher etwas altes sterben, dachte er. Er fühlte ein kleines Stechen in seiner Lunge und die Schmerzen, die jeden Tag da waren, an diesem Morgen waren sie noch stärker. Er schaute in den Himmel. Ein Falke kreiste über die Lichtung und suchte nach Beute. So mancher wird den Tag nicht überleben, sage er zu sich. 

Lange saß er da und er beobachtete nur den beginnenden Tag. Nichts woran er sonst dachte. Alles war gut, alles ist im Hier und Jetzt. Es ist immer nur der Augenblick der zählt. Die Gegenwart ist ist so klein, dass wir sie meist verpassen und in der Vergangenheit denken. Er fühlte wie sein Atem langsamer wurde. Die Schmerzen in der Brust waren nur noch leicht fühlbar. Er merkte, dass er seine linke Hand nicht mehr bewegen konnte. 

Er saß da und er hörte ein kleines leises Geräusch neben sich. Er traute sich kaum den Kopf zu bewegen und aus den Augenwinkeln sah er eines der jungen Rehe. Es stand seitlich etwa fünf Meter von ihm entfernt. Unmöglich das es mich nicht in der Witterung hat, dachte der alte Jäger, der Wind steht doch auf ihn. Er sah wie das Reh langsam näher kam. Hin und wieder nahm es ein Büschel Gras, fraß es und schaute sich um. Dann nach einigen Minuten, oder waren es schon Stunden, der alte Jäger hatte kein Gefühl mehr für Zeit, kam es immer näher. 

Der alte Jäger merkte, wie sein Herz langsamer schlug und eine eisige Kälte stieg von seinen Füßen hinauf, über die Beine, seinen Bauch und dann umklammerte die Kälte sein Herz. Wie eine kalte Faust fühlte es sich an und es war als die Faust sich immer mehr zusammenzog. Er atmete langsam und ruhig. Er fühlte keine Angst, er wusste, das die Zeit gekommen war. Das Reh, wie ein Zeichen für die Versöhnung mit der Natur, schuldlos und ohne Angst, kam ganz nah. Er fühlte noch wie die weiche Nase an seine Hand stupste.

Dann, ganz langsam, schwand alles Leben aus ihm. 

Ein Schwarm Vögel stieg aus den Bäumen, das Reh erschrak sich und stob in großen Sätzen davon. 

Der alte Jäger saß in seinem alten, mit Schaffell bezogenen Sessel, an der Lichtung und hatte seinen Frieden gefunden.